Diese Kurzgeschichte ist aus einem einfachen Writing Prompt heraus entstanden. Die Entwicklung, die diese Geschichte genommen hat, hat mich selbst überrascht. Als ich sie einmal an einen Verlag geschickt habe, wurde sie abgelehnt, weil sie “zu traurig sei”. Inzwischen sehe ich die Begründung als Kompliment an. Es macht mich stolz und glücklich zu sehen, dass ich mit meinen Geschichten Emotionen wie Traurigkeit wecken kann. Ich bin gespannt wie sie euch gefällt.
„Emilia Steinbeiss zeigt Ihnen wie Sie das Leben führen, das Sie lieben.“
Emilia strich mit dem Daumen über den Klappentext auf der Rückseite ihres Buches und las weitere kurze Auszüge aus Pressetexten und Rezensionen, die ihr Werk mit Lob überschütteten. Selbst nach zwei Jahren war es merkwürdig, fast schon fremdartig, diese Kritiken zu lesen. Diese Rezensionen bewerteten nicht nur Emilias Buch, sondern gleichzeitig auch ihr Leben. Immerhin war es das doch, oder? Ihr Leben? Das war der Sinn einer Autobiografie.
Emilia atmete hörbar aus und stellte das Buch zurück auf seinen Platz im Regal, wo es sich gut sichtbar von den anderen Büchern abhob. Ihre Agentin hatte ihr das schon früh erklärt. Eine gute Autorin sollte immer eine Ausgabe ihres Buches griffbereit mit sich führen. Schließlich konnte sie nie im Vorfeld wissen, ob sie unterwegs nicht einem existierenden oder zukünftigen Fan begegnen würde. Emilia war selbst erstaunt wie häufig das tatsächlich vorgekommen war.
Vielleicht lag das auch daran, dass ihr Gesicht wochenlang in den Nachrichten gewesen war und ihre zahlreichen Social Media Accounts nach wie vor durch die Decke gingen. Kopfschüttelnd kehrte Emilia zu ihrem Schreibtisch, einem beeindruckenden und stilvollen Konstrukt aus Eichenholz, zurück, und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Es war die dritte in zwei Stunden, aber die Wirkung des Koffeins wollte sich einfach nicht zeigen. Emilia ließ sich in ihren Schreibtischstuhl aus schwarzem Leder fallen und klappte den Laptop auf.
Eine Bekannte aus dem Yoga-Kurs hatte zu Emilia gemeint, dass sie sich ruhig mal freinehmen könnte, um ihren Erfolg zu feiern. Sie hatte ihr sogar vorgeschlagen, zu vereisen. Allein die Vorstellung war absurd. Reisen war die Grundlage von Emilias Arbeit. Jedes Mal, wenn Emilia sich ins Flugzeug setzte, nahm sie ihre Anhänger in den sozialen Medien mit und schrieb seitenlange Blogartikel darüber. Zu vereisen war für sie ähnlich entspannend wie den ganzen Tag in einer aufgeheizten Halle am Fließband zu stehen und Metallteile in Kisten zu packen.
So hat sich Jonas die Erfüllung seiner Liste nicht vorgestellt.
In diesem Moment wäre Emilia gern wieder sechzehn Jahre alt und in dieser Metall-Fabrik. Die Liste der Orte, die ihr damals verhasst schienen, und an denen sie heute gern wieder wäre, wuchs stetig. Die Kanzlei, die Uni, das Heim.
Mit Jonas an ihrer Seite hätte sie die Kraft, sich all dem erneut zu stellen.
Emilia nahm einen weiteren Schluck Kaffee und spielte mit dem Gedanken, ob neun Uhr morgens eine vertretbare Uhrzeit wäre, um sich einen Cocktail zuzubereiten. Sie würde es natürlich nicht tun, so wie sie nie ihre Kaffeetasse nach ihrer Agentin warf oder auf die Wand einschlug, auch wenn der Zorn glühend heiß in ihr brodelte. Es war die Art von Zorn, die Leben zerstören konnte, weil er Menschen unberechenbar und gefährlich machte. In ihrem Kopf ging Emilia ohne es zu wollen die Statistiken durch, die sie über Kinder aus dem Heim gelesen hatte. Um wie viel Prozent wahrscheinlicher Waisenkinder alkoholabhängig, drogensüchtig und kriminell wurden, psychische Erkrankungen entwickelten oder auf der Straße endeten.
Geistesabwesend meldete sie sich auf ihrem Konto an und starrte auf die weiße Word-Datei, die ihr entgegenklaffte. Ihre Agentin hatte sie mehr oder weniger subtil darauf hingewiesen, dass es an der Zeit wäre für ein neues Buch. Immerhin waren seit dem letzten schon zwei Jahre vergangen. Paula hatte vorgeschlagen, dass Emilia eine Art Update geben könnte. „Zwei Jahre danach – mein Leben als Unternehmerin.“ Emilia könnte darin ruhig mehr auf Fehler und persönliche Rückschläge eingehen. Sie könnte zum Beispiel über ihr Liebesleben schreiben. Das mochten die Leute besonders.
Für einen kurzen Moment verspürte Emilia das Verlangen die Tasse mit dem noch heißen Kaffee in Paula Müllers Gesicht zu rammen. Und das mehrmals. Emilia konnte nicht von sich behaupten, dass es im Laufe der Jahre mit dem Zorn besser geworden war. Ihre Selbstbeherrschung war bloß besser. Nicht mal Jonas kannte die vollen Ausmaße und dabei konnte er bereits ein Lied davon singen.
Wenigstens hat Paula nicht vorgeschlagen, dass ich über Jonas schreibe.
Paula Müller war vielleicht nicht die einfühlsamste Frau, aber vernünftig genug, um zu verstehen, dass gewisse Themen aus Emilias Vergangenheit nicht für die Öffentlichkeit zugänglich waren. Jonas belegte den ersten Platz. Das Heim folgte in einigem Abstand, auch wenn Emilia inzwischen erwog darüber zu schreiben.
Die Word-Datei blieb weiß und leer. Vorwurfsvoll. Emilia stützte das Kinn auf den Händen auf. Sie könnte über ihr Studium schreiben. Zwar hatte Emilias heutige Tätigkeit wenig mit dem zu tun, was man von einer Jura-Absolventin erwartete – ganz abgesehen davon, dass Emilia ihr Studium wie auch ihren späteren Beruf gehasst hatte – allerdings hatte sie als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Sie hatte sogar ein Stipendium erhalten und war in einem sehr jungen Alter bei einer der renommiertesten Anwaltskanzleien des Landes mit einem fünfstelligen Jahresgehalt eingestiegen. Es gab genug Menschen, die von so etwas träumten.
Sie öffnete ein Browserfenster und gab in die Suchleiste „how to win at college“ ein. Sie verdrehte die Augen, als sie bereits ein Buch mit diesem Titel fand. Als nächstes tippte sie „ohne Aufwand gute Noten“ in die Suchleiste. Dazu gab es bereits unzählige Blogartikel und Videos auf YouTube, aber noch keine Bücher. Paula wäre zufrieden. Sie würde den Titel als reißerisch, aber passend bezeichnen. Reißerisch, aber passend.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen verspürte Emilia das starke Verlangen die Kaffeetasse nach etwas zu werfen. Sie stellte sich vor, wie die bunte Tasse mit einem Krachen auf den weißen Bodenfliesen zerbrechen würde. Die Vorstellung war auf unheimliche Art befriedigend. Emilia drückte mit Daumen und Zeigefinger auf die obere Stelle ihres Nasenrückens und versuchte nicht an Jonas zu denken. Vier Jahre. Sie hatte gehofft, dass es leichter werden würde. Falsch gedacht!
Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten! Na, woran haben Sie gedacht?
Emilia zuckte zusammen, als das schrille Klingeln ihres Handys ertönte. Sie unterdrückte einen Fluch und dann noch einen, als sie den Namen des Anrufers las. Sie hätte es sich denken können. Simon rief immer an Jonas‘ Geburtstag an. Es war eine unausgesprochene Tradition zwischen ihnen. Emilia fragte sich, ob Simon es ihr übel nehmen würde, wenn sie nicht rangehen würde. Es würde nicht funktionieren. Simon wusste, dass sie da war. Er würde er so lange anrufen, bis sie ranging.
„Morgen, Simon“, sagte Emilia ins Handy.
„Hi Emilia“, ertönte Simons tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung. „Kannst du reden? Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Überhaupt nicht! Sind die Kinder schon in der Schule?“
„Hab sie gerade abgeladen.“ Simon klang stolz. „Wie geht’s dir, Emilia?“
„Gut. Gut. Dir?“ Emilia erhob sich und zog die Schuhe aus, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Dann legte sie sich, die Füße an die Wand gepresst, auf den kühlen Marmorboden. Sie stellte Simon auf Lautsprecher und legte das Handy auf ihre Brust.
„Auch gut. Etwas stressig ehrlich gesagt. Hab verschlafen. Sarah war schon früh raus und wenn die Kinder mich nicht geweckt hätten, wäre es mit der Schule schwierig geworden.“
„Da hast du aber ordentlich verschlafen.“
„Oh ich weiß schon. Du als jemand, der komplett auf Schlaf verzichtet, kennst solche Probleme natürlich nicht.“
Emilia schüttelte amüsiert den Kopf, auch wenn sie wusste, dass Simon es nicht sehen konnte. „Ich kriege mehr als genug Schlaf. Im Gegensatz zu dir teile ich ihn mir bloß besser ein.“
Simon lachte leise. „Wann bist du heute aufgestanden? Um vier?“
„Übertreibe es nicht. Halb fünf.“ Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen. Emilia fühlte sich nicht mal schuldig.
„Du bist irre. Verdammter Idiot!“ Emilia hob die Brauen.
„Da war jemand im Verkehr“, fügte Simon nach ein paar Sekunden hinzu.
„Das würde ich an deiner Stelle ebenfalls sagen“, sagte Emilia spöttisch.
Simon stieß einen genervten Seufzer aus. „Das ist so ein Chaos morgens. Ich kann es nicht erwarten, bis Sarah wieder Spätschicht hat und übernehmen kann. Keine Ahnung wie sie diesen Verkehr aushält.“
„Wie geht es Sarah so?“
Simon und Sarah. Das perfekte Paar. Simon und Sarah mit ihren zwei Kindern. Die perfekte kleine Familie. Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.
„Gut“, antwortete Simon nach einer Weile. Vermutlich hatte ihn etwas im Verkehr abgelenkt. „Etwas stressig im Krankenhaus. Aber eigentlich ist es im Krankenhaus immer stressig. Ist es bei dir stressig? Man liest ja immer, dass es Unternehmer stressig haben.“
Emilia zuckte die Achseln und rutschte ein Stück näher an die Wand. Es war eine Übung aus dem Yoga, die – vorausgesetzt man machte sie regelmäßig – entspannend wirken sollte. „Es geht. In unserer Gesellschaft sind die wenigsten Aktivitäten wirklich stressig. Es ist unsere Art sie wahrzunehmen, die Stress verursacht. Bevor ich mein Team hatte, war es definitiv anstrengender. Da habe ich alle Workshops selbst geleitet, war früh auf den Beinen und erst spät in der Nacht im Bett. Und dann noch die ganzen Telefonate, die Kooperationen, der juristische Quatsch“, Simon als Vollblutjurist schmunzelte, „und so weiter. Inzwischen geht’s. Paula, also meine Agentin, macht gerade Druck. Sie will, dass ich ein neues Buch schreibe.“
Simon stieß einen anerkennenden Laut aus. „Ich würde es mir sofort kaufen! Worüber wirst du schreiben? Das Heim?“
Emilia schloss die Augen und öffnete sie wieder. „Dann müsste ich über Jonas schreiben.“
„Stimmt.“ Jegliche Fröhlichkeit hatte Simons Stimme verlassen.
„Ich – ich dachte, ich könnte vielleicht über die Uni schreiben. Über mein Studium?“
„Du hast die Uni gehasst.“
„Aber ich war gut darin. Besser als du.“
„Das ist nicht fair“, murrte Simon. „Denn im Gegensatz zu dir mag ich meinen Beruf.“
„Kannst du dir wirklich vorstellen bis zur Rente in dieser Großkanzlei zu schuften?“, fragte Emilia ungläubig.
„Vielleicht nicht in dieser konkreten Großkanzlei, aber ja. Oder ich mache mich mit meiner eigenen Kanzlei selbstständig.“
„Müsstest du nicht so langsam im Büro sein?“ Emilia warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, die halb zehn zeigte. Die Übung hatte dafür gesorgt, dass sie sich etwas besser durchblutet fühlte. Galt das bereits als Entspannung?
„Ehrlich gesagt habe ich mir heute freigenommen.“
„Warum denn das?“ Emilia stockte. „Oh.“
„Ja.“ Pause. „Arbeitest du heute, Emilia?“
„Ich wollte, aber …“ Emilia stieß einen langen Seufzer aus
„Ich weiß.“ Simons Stimme war warm und voller Mitgefühl.
In den zwei Jahren, in denen Emilias Unternehmen bestand, hatte sie nie aufgehört sich wie eine Betrügerin zu fühlen. Selbst nachdem ihr Buch auf allen Bestseller Listen erschienen war und zahlreiche Erfahrungsberichte von glücklichen Teilnehmern ihrer Coachings das Internet durchflutet hatten. Es gab immer kleinen Teil, der vorwurfsvoll „Lügnerin“ flüsterte.
Welches Recht hast du, dieses kleine erbärmliche Waisenkind, anderen Leuten vorzuschreiben wie sie leben sollen? Du kriegst ja dein eigenes Leben nicht auf die Reihe.
„Ehrlich gesagt bin ich nicht um halb fünf aufgestanden“, murmelte sie. „Mein Wecker hat um halb fünf geklingelt. Das stimmt. Ich bin aufgestanden und hab mich wie immer angezogen. Mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass heute sein Geburtstag ist.“ Sie presste die Augen zusammen und kämpfte gegen die Tränen an. „Ich hab’s vergessen. Ich bin aufgewacht und hab’s tatsächlich vergessen.“
„Emilia …“
„Ich – ich dachte, heute wäre ein Tag wie jeder andere, aber dann habe ich auf mein Handy geblickt und das Datum gesehen … Ich konnte nicht mehr. Ich hab mich wieder ins Bett gelegt und bis sieben geschlafen.“
„Gott, Emilia. Natürlich denkt man um halb fünf nicht als Erstes an sowas. Jonas würde dir deswegen niemals Vorwürfe machen.“
Emilia lachte freudlos. Jonas machte nie irgendwem irgendwelche Vorwürfe. Emilia fragte sich, wie sie ihn verdient hatte.
„Ich hab überlegt heute hinzufahren. Zu Jonas.“
„Oh.“ Emilia hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen. Es war als hätte jemand eine Tonne Gewicht auf ihrer Brust abgeladen.
„Würde sich anbieten.“
„Klar.“ Emilia unterdrückte ein Seufzen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Klar. Absolut. Du hast recht.“
„Kommst du mit?“ Aus der Tonne wurden zwei. „Ich verstehe voll und ganz, wenn du nicht …“
„Klar“, unterbrach sie ihn hastig. Das einzige, was noch quälender war als die Vorstellung hinzufahren, war es nicht zu tun. „Klar komm ich mit.“
„Ok. Das freut mich! Ich könnte in zehn Minuten bei dir sein.“
Emilias Herz begann in einem unangenehmen Staccato zu schlagen. „Klingt super.“
„Dann bis gleich.“
„Bis gleich.“ Emilia gestattete es sich noch einige Sekunden lang liegen zu bleiben. Sie zählte in ihrem Kopf von zehn runter und zwang sich dann aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich bleiern und schwer an. Ihr fiel auf, dass sie sich noch anziehen und schminken musste. Am liebsten würde Emilia sich wieder ins Bett legen und vergessen, dass dieser Tag existierte. Sie widerstand dem Impuls etwas Schwarzes anzuziehen. Heute war immerhin Jonas Geburtstag. Stattdessen entschied sie sich für eine helle figurbetonte Bluse mit Blumenstickereien, von der sie wusste, dass Jonas sie mochte. Dann kaschierte sie die dunklen Ringe unter den Augen und schminkte sich. Schon lustig wie viel man heutzutage überdecken konnte. Sie sah präsentabel aus.
Gut genug für ein Selfie mit einem Fan auf Social Media. Sie packte noch ein paar Sachen in ihre Handtasche und wurde in dem Moment fertig, als es an der Tür klingelte. Als sie öffnete stand dort ein Bär von einem Mann. Simon hatte dunkelblondes Haar und einen dichten Bart, der ihm gut stand. Er trug einen Anzug und Emilia fragte sich unwillkürlich wie spontan sein Entschluss sich freizunehmen gewesen war.
„Hi“, sagte er lächelnd und umarmte sie herzlich, wenn auch kurz. Er roch nach Kaffee und teurem Aftershave.
„Hi.“
Simon musterte sie von oben bis unten. „Gut siehst du aus.“
„Danke. Bist du immer so chic angezogen, wenn du deine Kinder zur Schule bringst?“
„Natürlich, das ist mein Kinder-zur-Schule-bringen-Anzug. Er existiert nur zu diesem einen Zweck. Wollen wir?“
Emilia nickte. Als sie mit Simon nach draußen trat, bereute sie keine Jacke mitgenommen zu haben. Die Morgenluft eines kalten Frühlingstages schlug ihr entgegen. Simon hatte direkt vor dem Haus geparkt. In seinem Auto war es angenehm warm.
„Danke, dass du mitkommst“, sagte Simon, nachdem sie losfuhren.
„Natürlich.“ Emilia gelang es sogar zu lächeln. „Das ist nur angemessen.“
Simon knirschte mit den Zähnen und nickte kaum merklich. Er starrte angestrengt nach vorne. „Ist ziemlich kalt heute, findest du nicht?“
„Gar nicht.“ Emilia lehnte den Kopf gegen die Scheibe.
„Dann ist ja gut.“
„Ich bin schon bei niedrigeren Temperaturen gelaufen.“
„Aber du läufst gerade nicht. Beim Laufen wird einem warm.“
Emilia betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Es hatte zu regnen begonnen. Diese unangenehme kalte Art von Regen. Es gab zwei Gründe, weshalb Emilia das Heim überlebt hatte. Der eine war Jonas, der andere das Laufen.
Vielleicht bist du darum so gut darin, vor deinen Problemen wegzurennen.
„Sarah hat heute Nachmittag frei. Sie hat gestern Abend einen Kuchen gebacken.“ Simons Stimme durchbrach die Stille. „Sie hat gefragt, ob du zum Essen kommen möchtest. Die Kinder würden sich freuen.“
Emilia biss sich auf die Unterlippe. Simon und Sarah. Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.
„Liebend gern, hab die Kleinen ja ewig nicht mehr gesehen. Wobei … so klein ist Paul nicht mehr.“
Ein rotes Auto bog hupend rechts ab. Emilia versuchte sich daran zu erinnern, wann sie die Kinder das letzte Mal getroffen hatte. Es musste Monate her sein.
„Emilia?“
„Ja?“
„Kannst du mir die Liste zeigen?“
Es war überflüssig zu fragen, welche Liste er meinte.
„Natürlich.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche und öffnete die Word-Datei in der Cloud. Die Liste war in den letzten zwei Jahren um mehr als die Hälfte geschrumpft. Trotzdem war sie noch immer erschreckend lang und nicht im Geringsten geordnet.
„Ich lese einfach mal die nicht abgehakten Punkte vor.“
„Gern“, erwiderte Simon.
„Alle griechischen Inseln besuchen, einen Monat lang vegan leben, an einem Stierkampf teilnehmen –“
„Was?“, fiel Simon ihr entgeistert ins Wort. „War das schon immer drauf?“
Emilia verdrehte die Augen. „Ja und er meinte nicht als Zuschauer.“
„Verrückter Bastard.“
„Der nächste Punkt ist den Mount Everest besteigen.“
„Hast du das nicht schon während deiner Weltreise gemacht?“
Emilia schnaubte verächtlich. „Ich bin nicht lebensmüde. Hast du mein Buch wirklich gelesen?“
Simon zuckte die Achseln. „Ist eine Weile her.“
Emilia las weiter vor. „Reiten lernen, Gitarre spielen, Schwarzen Kaviar probieren, Pilze sammeln …“
„Du hast noch nie Pilze gesammelt?“
„Wozu auch? Wann denn?“
Simon grinste. „Ich finde es lustig. Du hast schon so viel von diesem verrückten Quatsch abgehakt, warst aber noch nicht Pilze sammeln.“
„Ich bin ein Stadtkind.“
„Dann müsstest du erst recht eine Begeisterung für die Natur entwickeln.“
„Wir sprechen nochmal, nachdem du ebenfalls drei – ‘tschuldige vier – Regenwälder besucht hast.“
Simon verzog das Gesicht. „Ist es noch viel?“
Emilia scrollte runter. „Noch vier Seiten.“
„Puh. Lass uns das aufteilen. Du übernimmst den Everest, ich gehe Pilze sammeln.“
Emilia lachte auf. „Das hättest du wohl gern.“
„Jonas hatte echt Nerven, was? Seine Bucketliste ist lang genug für uns alle zusammen.“
„Da haben wir noch einiges zu erledigen.“
Emilia wurde jäh in ihren Anschnallgurt gepresst, als Simon ruckartig in die Bremsen trat. Sie keuchte auf und sah gerade noch rechtzeitig das Motorrad, das blitzartig an ihnen vorbeischoss.
„Verdammtes Arschloch!“, schrie Simon. Er war leichenblass. Besorgt sah er Emilia an. „Alles in Ordnung?“
„Ja.“ Emilia fühlte sich seltsam ruhig.
Hinter ihnen hupte ein Auto. Simon fuhr weiter. Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass sich die Fingerknöchel weißlich färbten.
„Das hätte Jonas sein können.“ Emilias Stimme war heiser.
„Was?“
„Der Motorradfahrer. Das hätte Jonas sein können. Von der Art zu fahren her.“ Sie musste lächeln.
Simon erwiderte das Lächeln. „Jonas ist wie ein Irrer gefahren und dabei wirkte er nach außen hin immer so vernünftig.“
„Ich hab es so gehasst, wenn er gefahren ist, dass ich mir ein zweites Auto kaufen musste. Einmal ist er zweimal hintereinander einfach über Rot gefahren!“
„Verdammte Scheiße! Mit Absicht?“
„Was sonst?! Gott, die Kosten für seine Verkehrsdelikte waren ein fester Posten in unserem Haushaltsplan. Wir hatten Fixkosten wie Miete und Strom und darunter stand fein säuberlich Strafkosten für Jonas.“ Simon lachte schallend. „Als er mir erzählt hat, dass er lernen möchte, Motorrad zu fahren, bin ich ausgeflippt! Er konnte ja nicht mal normal Auto fahren und jetzt wollte er auch noch aufs Motorrad steigen?!“
„Das Schlimmste war ja, dass er die Prüfung mit Bravour bestanden hat“, entgegnete Simon. „Ich bin einmal mit ihm mitgefahren. Danach habe ich mir geschworen: nie wieder.“
„Ich hab ihm immer gesagt, dass es noch sein Tod sein wird.“ Emilias Lächeln verblasste. „Ich hab es irgendwie erwartet. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, er könnte an etwas anderem als einem Verkehrsunfall sterben. Klingt das verrückt?“
„Gar nicht.“
„Es wäre mir lieber gewesen. Mit einem Autounfall hab ich gerechnet. Ich wäre wütend gewesen, aber irgendwie – irgendwie wäre es richtig gewesen. Verstehst du mich?“
„Absolut.“
„Alles bloß nicht diese Diagnose.“ Emilia drehte sich weg und lehnte den Kopf wieder an die Scheibe. Man müsste meinen, dass ein Mensch irgendwann keine Tränen mehr übrig hatte, wenn er nur lang genug weinte. Emilia hatte in den letzten vier Jahren mehr geweint als in den ersten dreißig Jahren ihres Lebens zusammen. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, aber es kamen immer neue. „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Wenn du willst, kannst du im Auto bleiben“, erwiderte Simon leise. „Ich verstehe es voll und ganz. Dieser Tag ist für mich auch die Hölle. Jonas war mein erster richtiger Freund seit dem Kindergarten. Ohne ihn, ohne euch beide, hätte ich niemals Sarah kennengelernt oder dieses Studium abgeschlossen.“
„Es tut mir leid, dass ich nicht mitkommen kann.“
„Emilia“, sagte Simon eindringlich. „Du arbeitest seit Jahren jeden Tag seine verdammte Bucketliste ab! Du hast das Unternehmen seiner Träume gegründet. Du lebst seinen Traum. Dir braucht rein gar nichts leidzutun.“
Emilia atmete zitternd ein und aus. Sie unterdrückte ein Schluchzen. „Kein einziger Punkt auf dieser Liste ist von mir. Hab ich dir das erzählt? Keiner! Ich wollte niemals irgendetwas davon. Ich war nie sonderlich ambitioniert, obwohl mir das alle nachsagten. Alles, was ich jemals wollte, war mit Jonas zusammen alt zu werden.“ Sie kniff die Augen zusammen und fokussierte sich auf ihren Atem wie sie es im Yoga gelernt hatte. Die Tränen versiegten. Emilia öffnete die Augen, als sie spürte wie das Auto langsamer wurde. Simon lenkte es in die Einfahrt des Friedhofes.
Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, bis er das Auto geparkt hatte und zum Stehen gekommen war. Als er den Motor ausschaltete, hörte man nichts mehr außer ihren Atemzügen.
„Kommst du mit?“, fragte Simon leise.
Emilia wich seinem Blick aus und starrte auf ihre Hände im Schoß. Auf einmal erschien ihr die Arbeit am neuen Buch kinderleicht.
„Ja.“
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