Die Angst ins Ausland zu gehen

Aktuelles Sascha Sprikut
Sascha Sprikut
Fantasy Autorin
Die Angst ins Ausland zu gehen - Titelbild, Sonnenuntergang am Atlantik

Die Welt ist ein Buch, und wer nicht reist, sieht nur eine einzige Seite davon.

– Augustinus Aurelius, römischer Bischof und Kirchengelehrter (354 – 430)

Die Angst ins Ausland zu gehen

Seit dem Beginn meines Studiums gab es nichts, was ich so sehr erwartet und gleichermaßen gefürchtet habe wie dieses Auslandssemester.

Es spielte keine Rolle, dass es nur ein paar Monate sein würden oder dass Portugal gerade einmal drei Stunden mit dem Flugzeug entfernt war. (Zum Vergleich – ich benötige sieben Stunden mit dem Zug, um meinen Freund in Norddeutschland zu besuchen) Es brachte jedoch nichts, ich wollte es nicht.

Ein Auslandsaufenthalt – was mir in meiner Schulzeit aufregend und spannend erschienen war, verwandelte sich im Laufe meines Studiums in eine tosende Welle, die mich unter ihrem Gewicht begraben wollte.

Ich gehöre zu den Studenten, die gerne bei ihren Eltern wohnen und mir gefällt mein Leben so wie es ist. Ich habe ein Buch geschrieben, einen wundervollen Freundeskreis aufgebaut, bin mit einer Familie beglückt, die ohnegleichen ist, arbeite in einem Startup, wohne in einem tollen Haus und habe einen Freund, mit dem ich eine Zukunft sehe. Ich möchte dieses Leben nicht verlassen, auch wenn es nur für eine kurze Zeit ist.

Was ich auch mag ist Routine. Sicherheit. Gewissheit. Ein Auslandssemester in Lissabon dauert weniger als sechs Monate. Sechs Monate, die mir wie die Welt erschienen.

100 Gründe, es nicht zu tun

Während ich mich mit Händen und Füßen an die vertraute Tür meines Hauses klammerte, wurden meine Ausreden, nicht zu gehen, kreativer und besser. Die Unsicherheit, die das Coronavirus mit sich brachte, war beinahe eine Erleichterung.

„Ich kann nicht gehen. Vielleicht gibt es erneut einen Ausbrauch wie damals im Januar.“

„Ich kann nicht gehen. Ich bin noch nicht zufrieden mit der Wohnung dort.“

„Ich kann nicht gehen. Es ist einfach zu früh.“

Meine Austauschuniversität in Portugal hat mich praktisch gezwungen den Schritt doch zu wagen, als sie verkündete, dass binnen einer Woche sämtliche Vorlesungen in Präsenz starten würden. In Präsenz. Online Vorlesungen waren ausgeschlossen, absolute Anwesenheit erforderlich.

Aufbruch?

Im ersten Augenblick war ich so entsetzt, dass ich stundenlang nicht mehr klar denken konnte. Die Angst umgab mich wie ein Nebel. Ich hatte das Gefühl in einem tiefen Brunnen zu stecken, aus dem ich nicht mehr herauskam. Um mich herum nur hohe Wände aus organisatorischem Aufwand, Flug- und Wohnungssuche, stressigem E-Mail-Austausch mit meinem Professor in Portugal und die Befürchtung vor lauter Stress keine Luft zu bekommen.

Vielleicht war es einfach nur Pech, vielleicht hing es mit dem Stress zusammen – am Tag meines Abflugs erwischte es mich. Zwei Stunden vor Abflug ging es mir so schlecht, dass ich nicht mehr in der Lage war aufrecht zu gehen, geschweige denn in ein Flugzeug zu steigen. Meine Mutter meinte später zu mir, dass eine weiße Steinplatte mehr Farbe hatte als mein Gesicht an dem Tag.

Und so verschob sich mein Flug um eine Woche. Es schien als hätte die Angst ins Ausland zu gehen doch gesiegt. Meine Eltern, die mich zum Flughafen gebracht hatten, buchten den Flug für mich um. Mir war in dem Moment so schwindelig, dass ich kaum etwas davon mitbekam.

In der nächsten Woche passierte etwas Unglaubliches. Ich war krank, geschwächt und hatte Mühe mich zu konzentrieren. Gleichzeitig war ich so erholt und entspannt wie seit Monaten nicht mehr. In dieser Woche stellte ich mein persönliches Wohlergehen über alles, um wieder gesund zu werden. Ich lernte genau darauf zu hören, was mein Körper wollte, achtete auf meinen Schlaf, saß stundenlang in der Sonne und legte mich spontan ins Bett, wenn mir danach war. Wäre ich nicht krank gewesen, würde ich diese Woche sogar als Urlaub bezeichnen.

Als ich schlussendlich nach Lissabon flog, war ich so ruhig und ausgeglichen wie schon lange nicht mehr. Mehr noch, ich freute mich darauf. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Die Angst ins Ausland zu gehen - Beitragsbild

Die Magie von Lissabon

Diese Stadt trägt die Schönheit zahlreicher Epochen mit der Eleganz einer Tänzerin. Sie ist laut, warm und in ihren Straßen sprudelt das Leben. Ich könnte stundenlang nichts anderes tun als durch die alten Gassen von Alfama zu spazieren. Es gibt zahlreiche Miradores, Aussichtspunkte, jeder einzelne mit einem anderen Blick auf die Stadt. Einer schöner als der nächste. Ich höre einem Gitarrenspieler zu, der mit wenigen Tönen eine magische Aura über die Leute wirft. In der Luft, über den Straßen mit ihren Autos, Bussen und Straßenbahnen rieche ich das Salz des Meeres und die Frische des Herbstes.

Ein Freund hat mir erzählt, dass Frühling und Herbst die besten Zeiten seien, um nach Portugal zu kommen. Ich verstehe warum. Die Sonne ist warm genug, um ohne Jacke nach zu draußen zu gehen, aber der Wind des Ozeans mindert die sengende Hitze. Das Wetter lädt ein nach draußen zu gehen und alles zu erkunden, aber es ist nie zu warm, um für einen Espresso und eine Pastel de Nata anzuhalten.

Jedes Mal, wenn ich an einem Buchladen vorbeigehe und den Geruch von altem Papier wahrnehme, bin ich erstaunt von den Wundern der Welt.

Mich fasziniert es, Einheimische und Touristen auf der “Feira da Ladra” (schönster Flohmarkt der Stadt) zu beobachten. Die einen kaufen, um sich zu erinnern, die anderen, für den täglichen Gebrauch.
Wenn ich morgens zur Universität gehe, sehe ich ältere Arbeiter bei Espresso, Orangensaft und Sandwiches in kleinen Cafés auf Plastikstühlen sitzen, während junge Geschäftsleute bei 30 Grad im schwarzen Anzug mit dem Telefon in der Hand zur Metro eilen. Egal, was ich anziehe, ich steche nicht heraus, sondern werde eins mit dem bunten Strudel dieser Stadt.

Die Angst ins Ausland zu gehen - Beitragsbild 2

Das Wunder des Ozeans

Letzten Samstag habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Ozean gesehen. Ich wurde am Meer geboren und bin am Meer aufgewachsen. An den meisten Tagen vermisse ich es und denke mit Sehnsucht an den Geruch von Salz und das Schaukeln der Wellen zurück. Den Ozean hingegen habe ich noch nie gesehen.

Als Kind hatte ich einmal Angst, ins Wasser zu gehen, weil mir die Wellen so furchtbar hoch erschienen. Meine Mutter hat meine Hand genommen und mir gesagt, dass meine Angst berechtigt ist. „Du musst immer daran denken“, sagte sie, „dass das Meer nicht dein Freund ist.“

Im Gegensatz zum Meer hatte ich beim Anblick des Atlantiks nicht mal die Illusion davon einen Freund vor mir zu haben. Es war ein ruhiger und beinahe windstiller Tag. Trotzdem waren diese Wellen höher als alles, was ich je am Mittelmeer erblickt hatte. Das Wasser war eisig kalt und die Strömung reißend. Obwohl ich nicht nur mit den Füßen ins Wasser trat, waren sie binnen weniger Sekunden im nassen Sand vergraben. Auf einmal war der Strand viel weiter entfernt als noch vor einigen Sekunden.

Die Angst ins Ausland zu gehen - Ozean
Der eigentliche Grund für den Strandbesuch war ein Festival, direkt in der Nähe. Während meine Freunde zu elektronischer Musik tanzten und Flunky Ball spielten, konnte ich nicht aufhören dieses Wasser anzustarren, in dem sich das goldene Licht der Sonne spiegelte. Ich wurde Zeugin eines atemberaubenden und imposanten Sonnenuntergangs.

Unendlich viel zu sehen

Jedes Mal, wenn ich mit Portugiesen und anderen internationalen Studenten spreche, erfahre ich von neuen Orten, die ich unbedingt bereisen sollte. Meine Liste an Sehenswürdigkeiten in Lissabon und Portugal ist länger als die Monate, die ich hier verbringen werde.

Es macht mich jetzt schon traurig zu wissen, dass ich nicht alles sehen werde. Ich freue mich aber auch darüber, weil ich jetzt unzählige Gründe habe, nach Portugal zurückzukehren.

Die magischen Straßen von Alfama, in denen die Jahre der Stadt schlummern, die atemberaubende Aussicht vom Castelo de São Jorge, der herausragende Espresso mit dem sündhaft leckeren Pastel de Nata, das Privileg den Ozean erleben zu dürfen – allein dafür hat es sich bereits gelohnt.
Dabei habe ich immer noch so wenig gesehen. Ich wollte nicht nach Portugal – die Angst ins Ausland zu gehen lähmte mich.

Aber jetzt bin ich hier und ich bin froh darüber.

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